Eine
der entscheidenden Veränderungen in der Geschichte der französischen
Comics - und damit der Comics überhaupt - geschah zu Ende der 70er
Jahre. Damals drang die Malerei ein in die bis dahin primär grafische
Kunstform. Die Technik der Kolorierung, die den schwarzweißen Entwurfszeichnungen
der Bildergeschichten Farbe gegeben hatte, war vor allem eine Druckpraxis.
Sie fügte der Grafik in einem zweiten Arbeitsgang die Farben hinzu.
Und häufig lagen Zeichnung und Kolorierung gar nicht in der Hand
desselben Künstlers. Das änderte sich durch die sogenannte "Couleur
Directe", das direkte Auftragen der Farbe auf den Comic-Entwurf,
bzw. den Comic-Entwurf in Farbe als ein Comic-Gemälde. Damit bekommen
die Originale aus den Händen der Zeichner eine neue Qualität.
Ihnen wächst trotz intendierter Reproduzierbarkeit eine Art Aura
zu wie einem Bild, das ein Unikat ist. Abgesehen von dieser "Adelung"
des Comic-Panels zum Kunstwerk werden selbstverständlich durch die
Direktkolorierung viele neue Effekte, Akzente und Kräfte im alten
Medium freigesetzt.
Alex Barbier war einer der ersten, der das Erzählen in Bilderfolgen
malerisch begriff. Er ist 1950 im französischen Saint-Claude geboren
und hat 1975 seine ersten gemalten Short Storys veröffentlicht. 1979
erschien der Band "Lycaons" und 1982 "Le Dieu du 12".
Danach begann er mit seinem auch in Deutschland bekannten Werk, der Novelle
"Briefe an den Bürgermeister von V.". Sie wurde in der
Zeitschrift "Hara-Kiri" abgedruckt, blieb aber wegen der Einstellung
des Magazins im Jahr 1985 unvollendet. Ein wenig enttäuscht davon,
dass die neuen Qualitäten narrativer Malerei noch kaum begriffen
wurden, wandte Barbier sich danach dem Tafelbild zu, studierte an der
Hochschule der Schönen Künste in Nantes Grafik und Bildhauerei
und stellte seine Arbeiten in zahlreichen Galerien in Frankreich und der
Schweiz aus.
Nachdem sich die "Couleur Directe" in den 90er Jahren als dominante
Technik im französischen Comic durchgesetzt hatte, wurde Barbier
als einer ihrer Urväter wiederentdeckt. Seine Alben wurden neu aufgelegt
und er malte neue Comic-Geschichten: 1994 "Wie ein Hahn ohne Kopf"
und "Les Paysages de la Nuit". Ein Jahr später traten die
Japaner, die inzwischen die Comic-Szene der ganzen Welt stilistisch beeinflussen
und kommerziell nutzen, auch an Barbier heran, und er schuf für den
Verlag Kodansha einen Comic-Roman von über 100 Seiten Umfang. Schließlich
hat er auch mit der Brüsseler Künstlergruppe Fréon ein
Projekt entwickelt.
Alex Barbiers großes Thema ist die Angst. Er malt Visionen der Angst,
wie sie aus dem Unbewussten aufsteigt oder wie sie von Drogen ausgelöst
wird. Objektive Realitäten kennen seine Geschichten und seine Bilder
kaum. Jeder Erzählstrang kann von einem Augenblick zum anderen in
eine andere Wirklichkeit umschlagen. In der elenden und einsamen Morgenstimmung
eines heruntergekommenen Zimmers in der Geschichte "Wie ein Hahn
ohne Kopf" realisiert sich auf einmal ein Fernsehansager mit merkwürdigen
Nachrichten oder eine Art außerirdisches Wesen mit Eroberungsplänen.
Die Welt von Barbier und seinen Figuren hat keine klaren Konturen. Immer
wieder versetzt er seine Bilder in malerische Unschärfe. Damit werden
die Szenen in die Andeutung entrückt, in die Undurchsichtigkeit,
in unklare Zonen. Oft verlieren sich dort Barbiers Figuren.
Die sind meist Ausgesetzte, ausgesetzt seelischen Verwirrungen, physischen
Schrecken und fleischlichem Entsetzen. Erotik und Sexualität spielen
in Barbiers Geschichten eine entscheidende Rolle, oft aufgefasst als Obsessionen,
Wahnvorstellungen, immer wieder nahe an den Schmerz gerückt. Der
englische Künstler Francis Bacon lässt sich als Vorbild ausfindig
machen. Manchmal reißen Barbiers Figuren in ähnlichem Schmerz
die Münder auf wie jene von Bacon. Sexualität, Ängste,
Wahn verändern die Menschen, von denen Barbier erzählt. Sie
vertieren, sie verwandeln sich auch bildhaft in Bestien. Werwölfe,
Vampire und sogar "brutale Comicfiguren" durchstreifen verschattete
Räume und traurige Stadtlandschaften. Die Farben sind expressiv,
werden im Licht gebrochen und manchmal in Scheinhaftigkeiten aufgelöst.
Sie gehorchen nicht dem Spektrum der Sonne, sondern jenem anderen Spektrum
von Verschiebungen der Hirnphysiologie, wie es durch Drogenkonsum erzeugt
wird. Barbier hat immer eine Nähe zum amerikanischen Drogen-Autor
William Burroughs eingeräumt. Für David Cronenbergs Verfilmung
des Burroughs-Romans "Naked Lunch" hat er eine Geschichte gemalt.
Selbstverständlich ist seine Tageszeit die Nacht. Selbstverständlich
erinnert die Verlassenheit der Personen an die kalten Welten Edward Hoppers.
"Horrible" ist das adäquate französische Wort für
die Storys, die Alex Barbier erzählt, für die Befindlichkeit
seiner Protagonisten und für die Stimmung seiner Comic-Panels, die
alle kleine Gemälde sind. (HH)
© Stadt Erlangen und Verfasser
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