Die Grenzen der Stadt: Baru

Kongresszentrum Heinrich-Lades-Halle, Großer Saal
30. Mai - 2. Juni
Do 12-19 Uhr
Fr, Sa 10-19 Uhr
So 10-18 Uhr

 

Manche Comic-Seite aus der Feder von Baru kann man beschreiben wie ein technisches Filmdrehbuch anhand der Kameraeinstellungen. Zum Beispiel: Halbtotale auf eine Bushaltestelle, angeschnitten eine Straße mit Autos; dominant ist ein leeres Stück Pflaster, das offensichtlich gegen den Neigungswinkel der Kamera nach oben gerichtet ist (1. Panel). Halbtotale aus der Froschperspektive auf einen Mann, der am linken Bildrand ein Auto verlässt, das ist durch eine zentrierte Sprechblase weitgehend verdeckt; im Vordergrund groß: ein Fuß mit einem Stück Hosenbein (2. Panel). Nahaufnahme von schräg oben vom Heck des Autos; aus dem Auspuff tritt Rauch (3. Panel). Nahaufnahme des Oberkörpers des Mannes, der beinahe das ganze Bild füllt, er ist diagonal von links unten nach rechts oben angeordnet; sein karikaturhaft verzerrtes Gesicht ist dieser Hauptrichtung entgegen gewandt (4. Panel). Halbtotale durch die Beine eines Mannes im Vordergrund auf das davonfahrende Auto; am rechten Bildrand fluchten geparkte Autos in den Hintergrund und von rechts ragt ein Arm in den Bildausschnitt (5. Panel). Nahaufnahme bei leichter Schräglage der Kamera über die Kühlerhaube hinweg auf die Windschutzscheibe des Autos, hinter der zwei Männerköpfe sichtbar sind; am oberen linken Bildrand: Dachfirste von Häusern (6. Panel).
So erzählt Baru auf der Seite 14 des Albums "Lauf, Kumpel" einen Autodiebstahl, sehr filmisch durch extreme Perspektivwechsel, sehr dynamisch durch gegenläufige Fluchtlinien. Für den Betrachter ergibt sich das Gefühl, er wäre an der Handlung ganz dicht dran, eigentlich in ihr drin, denn Distanz durch Übersicht lässt diese grafische Erzähltechnik nicht zu.
Der Stil des Comiczeichners Hervé Barulea, der seit Kindertagen Baru genannt wurde und diese Verkürzung als Künstlernamen übernommen hat, ist eigenwillig und unverkennbar. Zur filmischen Erzähltechnik kommt die antinaturalistische Gestaltung der Charaktere. Die Gesichter von Barus Figuren werden auf wesentliche Charaktermerkmale reduziert und typisiert. Sie sind karikiert, um das Eigentliche prägnant kenntlich zu machen. Es ist eine Karikatur, die in der Folge expressionistischer Kunstentwürfe das Innere veräußerlicht. Ein großes Vorbild in der Comic-Geschichte ist für Baru der argentinische Zeichner José Muñoz, der seinen desillusionierten Großstadthelden Alack Sinner und dessen bizarre Welt mit ganz ähnlichen Mitteln angelegt hat.
Bizarr wird die Welt für Muñoz wie für Baru durch das aus dem Gleichgewicht geratene Soziale. Dabei ist es für Baru vor allem der Rassismus, der das Gleichgewicht zerstört. In dieser Haltung artikulieren sich eigene Erfahrungen, denn Baru wurde 1947 als Sohn eines italienischen Einwanderers und einer französischen Mutter in dem lothringischen Städtchen Thil geboren. Zu seinen sozialen Erfahrungen gehört also die kulturelle Ausgrenzung, genauso wie der proletarische Blickwinkel dazu gehört; schließlich war sein Vater Schlosser, und Baru wuchs zwischen Fabriken und Hochöfen auf. Noch in seinem monumentalen Werk "Autoroute du Soleil" hat er dem Widerstand eines Hochofens gegen seine Sprengung einen kleinen Hymnus gewidmet. Seine Helden sind, ohne dass sie immer sozial genau bestimmt wären, eherin der Unterschicht angesiedelt. Oft sind es die Kinder von Menschen, die nach Frankreich einwanderten. Und nicht wenige ihrer Probleme resultieren genau aus dieser gesellschaftlichen Lage. So wird der algerienstämmige Said Boudiaf in dem Album "Der Champion", zu dem Jean-Marc Thévenet das Szenario schrieb, zwar französischer Meister im Boxen, wird sogar Europameister, doch für die Franzosen bleibt er "der Araber" und die Algerier (die Geschichte spielt zur Zeit ihres Freiheitskampfes) betrachten ihn als Verräter und Kollaborateur. Auch hier hat Baru eigene Erfahrungen aus einem Algerienaufenthalt und einem Studium als Sportlehrer verarbeitet.
Anfang der 90er Jahre bekam Baru von dem japanischen Manga-Verlag Kodansha den Auftrag für einen langen Comic-Roman. "Autoroute du Soleil" umfasste schließlich über 400 Seiten. Den japanischen Seherfahrungen musste Barus filmische Erzählweise, seine multiperspektivische Zergliederung der Handlung entgegenkommen. Doch das Beharren auf der sozialen Grundierung eines Road-Comic hat sie eher verwirrt. Denn auch in diesem Buch befindet sich ein arabischstämmiger Franzose mit seinem Freund auf der Flucht vor Rechtsradikalen. Baru erzählt wieder ein Abenteuer des Alltags, in dem Phantasien und Träume erdenschwer bleiben müssen, weil die Verhältnisse nicht anders sind. Und wenn auch in seinen jüngsten Arbeiten an den Kindheitserinnerungen "Die Sputnik-Jahre" der Strich leichter wird und Baru den Blick des Betrachters weniger stringent führt, so ist doch der erlebte Alltag - meist an den Peripherien der großen Städte - der Stoff, aus dem die Erfahrungen, aber auch die Träume gemacht werden. (HH)

© Stadt Erlangen und Verfasser

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