Manche
Comic-Seite aus der Feder von Baru kann man beschreiben wie ein technisches
Filmdrehbuch anhand der Kameraeinstellungen. Zum Beispiel: Halbtotale
auf eine Bushaltestelle, angeschnitten eine Straße mit Autos; dominant
ist ein leeres Stück Pflaster, das offensichtlich gegen den Neigungswinkel
der Kamera nach oben gerichtet ist (1. Panel). Halbtotale aus der Froschperspektive
auf einen Mann, der am linken Bildrand ein Auto verlässt, das ist
durch eine zentrierte Sprechblase weitgehend verdeckt; im Vordergrund
groß: ein Fuß mit einem Stück Hosenbein (2. Panel). Nahaufnahme
von schräg oben vom Heck des Autos; aus dem Auspuff tritt Rauch (3.
Panel). Nahaufnahme des Oberkörpers des Mannes, der beinahe das ganze
Bild füllt, er ist diagonal von links unten nach rechts oben angeordnet;
sein karikaturhaft verzerrtes Gesicht ist dieser Hauptrichtung entgegen
gewandt (4. Panel). Halbtotale durch die Beine eines Mannes im Vordergrund
auf das davonfahrende Auto; am rechten Bildrand fluchten geparkte Autos
in den Hintergrund und von rechts ragt ein Arm in den Bildausschnitt (5.
Panel). Nahaufnahme bei leichter Schräglage der Kamera über
die Kühlerhaube hinweg auf die Windschutzscheibe des Autos, hinter
der zwei Männerköpfe sichtbar sind; am oberen linken Bildrand:
Dachfirste von Häusern (6. Panel).
So erzählt Baru auf der Seite 14 des Albums "Lauf, Kumpel"
einen Autodiebstahl, sehr filmisch durch extreme Perspektivwechsel, sehr
dynamisch durch gegenläufige Fluchtlinien. Für den Betrachter
ergibt sich das Gefühl, er wäre an der Handlung ganz dicht dran,
eigentlich in ihr drin, denn Distanz durch Übersicht lässt diese
grafische Erzähltechnik nicht zu.
Der Stil des Comiczeichners Hervé Barulea, der seit Kindertagen
Baru genannt wurde und diese Verkürzung als Künstlernamen übernommen
hat, ist eigenwillig und unverkennbar. Zur filmischen Erzähltechnik
kommt die antinaturalistische Gestaltung der Charaktere. Die Gesichter
von Barus Figuren werden auf wesentliche Charaktermerkmale reduziert und
typisiert. Sie sind karikiert, um das Eigentliche prägnant kenntlich
zu machen. Es ist eine Karikatur, die in der Folge expressionistischer
Kunstentwürfe das Innere veräußerlicht. Ein großes
Vorbild in der Comic-Geschichte ist für Baru der argentinische Zeichner
José Muñoz, der seinen desillusionierten Großstadthelden
Alack Sinner und dessen bizarre Welt mit ganz ähnlichen Mitteln angelegt
hat.
Bizarr
wird die Welt für Muñoz wie für Baru durch das aus dem
Gleichgewicht geratene Soziale. Dabei ist es für Baru vor allem der
Rassismus, der das Gleichgewicht zerstört. In dieser Haltung artikulieren
sich eigene Erfahrungen, denn Baru wurde 1947 als Sohn eines italienischen
Einwanderers und einer französischen Mutter in dem lothringischen
Städtchen Thil geboren. Zu seinen sozialen Erfahrungen gehört
also die kulturelle Ausgrenzung, genauso wie der proletarische Blickwinkel
dazu gehört; schließlich war sein Vater Schlosser, und Baru
wuchs zwischen Fabriken und Hochöfen auf. Noch in seinem monumentalen
Werk "Autoroute du Soleil" hat er dem Widerstand eines Hochofens
gegen seine Sprengung einen kleinen Hymnus gewidmet. Seine Helden sind,
ohne dass sie immer sozial genau bestimmt wären, eherin der Unterschicht
angesiedelt. Oft sind es die Kinder von Menschen, die nach Frankreich
einwanderten. Und nicht wenige ihrer Probleme resultieren genau aus dieser
gesellschaftlichen Lage. So wird der algerienstämmige Said Boudiaf
in dem Album "Der Champion", zu dem Jean-Marc Thévenet
das Szenario schrieb, zwar französischer Meister im Boxen, wird sogar
Europameister, doch für die Franzosen bleibt er "der Araber"
und die Algerier (die Geschichte spielt zur Zeit ihres Freiheitskampfes)
betrachten ihn als Verräter und Kollaborateur. Auch hier hat Baru
eigene Erfahrungen aus einem Algerienaufenthalt und einem Studium als
Sportlehrer verarbeitet.
Anfang
der 90er Jahre bekam Baru von dem japanischen Manga-Verlag Kodansha den
Auftrag für einen langen Comic-Roman. "Autoroute du Soleil"
umfasste schließlich über 400 Seiten. Den japanischen Seherfahrungen
musste Barus filmische Erzählweise, seine multiperspektivische Zergliederung
der Handlung entgegenkommen. Doch das Beharren auf der sozialen Grundierung
eines Road-Comic hat sie eher verwirrt. Denn auch in diesem Buch befindet
sich ein arabischstämmiger Franzose mit seinem Freund auf der Flucht
vor Rechtsradikalen. Baru erzählt wieder ein Abenteuer des Alltags,
in dem Phantasien und Träume erdenschwer bleiben müssen, weil
die Verhältnisse nicht anders sind. Und wenn auch in seinen jüngsten
Arbeiten an den Kindheitserinnerungen "Die Sputnik-Jahre" der
Strich leichter wird und Baru den Blick des Betrachters weniger stringent
führt, so ist doch der erlebte Alltag - meist an den Peripherien
der großen Städte - der Stoff, aus dem die Erfahrungen, aber
auch die Träume gemacht werden. (HH)
© Stadt Erlangen und Verfasser
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