"Differenz und Wiederholung" - das ist der Titel eines Buches,
das der französische Philosoph Gilles Deleuze geschrieben hat. Dieses
Buch liest unter anderem der Totenfährmann Charon, der den 1995 in
der Realität verstorbenen Philosophen in immerwährenden Wiederholungen
über den Styx rudert - in der Comic-Erzählung "Salut, Deleuze!".
Dabei verläuft jede Begegnung des Denkers mit der Unterwelt ein wenig
anders, weist gegenüber der vorangegangenen eine kleine Differenz
auf. Im Comic ist Deleuze ein Typ mit einem sehr lang gezogenen Kopf und
einer Nase, die einem kleinen Rüssel gleicht. Auf dem Kopf trägt
er einen winzigen komischen Hut. Damit ähnelt er einem anderen Comic-Protagonisten
mit lang gezogenem Kopf und kleinem Hut, allerdings in Form einer sogenannten
"Kreissäge", wie sie das Markenzeichen des Stummfilmkomikers
Buster Keaton war. Dieser andere Comic-Protagonist hat labyrinthische
Abenteuer in dem Album "hundert Ansichten der Speicherstadt"
erlebt. Darin spielte Wasser eine entscheidende Rolle. Und Wasser ist
ja auch das Element, das den Nachen Charons trägt. Und es ist das
Element für den mächtigen Ozeanriesen, an dessen Bord "Der
unschuldige Passagier" gerät. Offensichtlich auch in zirkelhaften
Wiederholungen. Denn die letzten Bilder dieses umfangreichen Comic-Buches
münden gleichsam in seine ersten Bilder zurück. Der unschuldige
Passagier ist übrigens ein Herr mit einem ziemlich lang gezogenen
Kopf.
Differenz
und Wiederholung erweisen sich also als künstlerische Prinzipien
des grafischen Erzählers Martin tom Dieck, der all diese Geschichten
in Bilder gesetzt hat. Er variiert stets ähnliche Motive: Wasser,
Schifffahrt, einsame Männer in labyrinthischen Lagen. Wobei diese
Labyrinthe offensichtlich für Zonen von Träumen und Albträumen
stehen, vielleicht für das Unbewusste des Menschen überhaupt.
Auch Wasser hat ja seine psychoanalytische Bedeutung. Es repräsentiert
unter anderem die Seele selbst in ihrer Bewegung und Abgründigkeit.
In seinem kleinen Comic-Essay "Die schweigende Laute" reflektiert
tom Dieck über das Funktionieren von Träumen, zeigt, wie ein
laufender Fernseher, vor dem ein Mann einschläft, einen Traum von
einem orientalischen Lautenspieler stimuliert, bis das Gerät abgeschaltet
wird.
So entfalten sich allmählich die Vernetzungen und Verwebungen der
einzelnen Geschichten, die Martin tom Dieck erzählt. 1993 betrat
er mit dem Band "Der unschuldige Passagier" eindrucksvoll die
Szene und wurde dafür sofort mit dem Max-und-Moritz-Preis des Internationalen
Comic-Salons Erlangen ausgezeichnet. Dieses Werk ist das Produkt einer
Ausschreibung der Stadt Alsfeld für das Amt des Stadtschreibers,
der im Jahr 1992 ausdrücklich ein Comic-Künstler sein sollte.
Martin tom Dieck, 1963 in Oldenburg geboren, bewarb sich mit einigen Seiten
seiner Diplomarbeit, mit der er gerade das Studium an der Hamburger Fachhochschule
für Gestaltung abgeschlossen hatte; sie enthielt den Plot für
den "Passagier" schon im Kern. Ein Jahr hatte er als Stipendiat
von Alsfeld dann Zeit, diesen Plot zu einem surrealen Bilder-Roman zu
entwickeln.
Dabei
kommt tom Dieck fast ohne Worte aus (in "hundert Ansichten der Speicherstadt"
verzichtet er ganz darauf). Er arbeitet vom Bild her, von holzschnittartigen
Schwarz-Weiß-Effekten. Der Strich kann Körper entweder zu wuchtigen
Volumina verdichten oder sie beinahe impressionistisch auflösen.
Die menschliche Figur ist dabei selbst so ein Volumen, mehr grafisches
Element als individualisierter Handlungsträger. Erst in den beiden
Deleuze-Alben "Salut, Deleuze!" und "Die Abenteuer des
unglaublichen Orpheus" löst sie sich aus dem formalen Zusammenhang
und rückt ins Zentrum der Gestaltung. Für diese Bände hat
der Journalist Jens Balzer die Szenarien geschrieben. Daher - und in konsequenter
Hommage an den verbal argumentierenden Philosophen - wird nunmehr der
Text wichtig. In den Geschichten, die tom Dieck selber entwirft, kann
er weitgehend darauf verzichten, weil die Grafik selbst narrativ, illustrativ
und zugleich symbolisch ist. Für sein ganzes bisheriges Werk wurde
tom Dieck beim letzten Salon mit dem Max-und-Moritz-Preis für den
besten deutschen Künstler ausgezeichnet.
Ganz unprätentiös sagt Martin tom Dieck, dass es ihm Spaß
mache, am Schreibtisch zu sitzen und abgedrehte Welten zu erfinden. Und
er sagt, dass ihn ganz besonders der Raum zwischen den Panels fasziniere.
Da in diesem Raum viel passiert, wenn die Bilder quasi ausgeblendet werden,
sind tom Diecks Erzählungen nicht in schlichter narrativer Kontinuität
gehalten, sondern wirken wie Momentaufnahmen eines größeren
Geschehens hinter den Bildern. Eines Geschehens, von dem das Bewusstsein
nur vage Ahnungen verspürt, während der Traum seine Totalität
kennt. Ihr kann sich nur ein Künstler nähern - während
die Arbeit des Totenfährmanns unentwegt weitergeht. (HH)
© Stadt Erlangen und Verfasser
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