Martin tom Dieck: Ich kann von hier den Hafen sehen

Städtische Galerie Erlangen – Kleine Galerie
Palais Stutterheim, Marktplatz 1
30. Mai - 30. Juni 2002
während des Salons:
Do 12-19 Uhr; Fr, Sa 10-19 Uhr; So 10-18 Uhr
sonst: Di-Fr 10-18 Uhr
Sa, So 10-17 Uhr
Mo geschlossen


"Differenz und Wiederholung" - das ist der Titel eines Buches, das der französische Philosoph Gilles Deleuze geschrieben hat. Dieses Buch liest unter anderem der Totenfährmann Charon, der den 1995 in der Realität verstorbenen Philosophen in immerwährenden Wiederholungen über den Styx rudert - in der Comic-Erzählung "Salut, Deleuze!". Dabei verläuft jede Begegnung des Denkers mit der Unterwelt ein wenig anders, weist gegenüber der vorangegangenen eine kleine Differenz auf. Im Comic ist Deleuze ein Typ mit einem sehr lang gezogenen Kopf und einer Nase, die einem kleinen Rüssel gleicht. Auf dem Kopf trägt er einen winzigen komischen Hut. Damit ähnelt er einem anderen Comic-Protagonisten mit lang gezogenem Kopf und kleinem Hut, allerdings in Form einer sogenannten "Kreissäge", wie sie das Markenzeichen des Stummfilmkomikers Buster Keaton war. Dieser andere Comic-Protagonist hat labyrinthische Abenteuer in dem Album "hundert Ansichten der Speicherstadt" erlebt. Darin spielte Wasser eine entscheidende Rolle. Und Wasser ist ja auch das Element, das den Nachen Charons trägt. Und es ist das Element für den mächtigen Ozeanriesen, an dessen Bord "Der unschuldige Passagier" gerät. Offensichtlich auch in zirkelhaften Wiederholungen. Denn die letzten Bilder dieses umfangreichen Comic-Buches münden gleichsam in seine ersten Bilder zurück. Der unschuldige Passagier ist übrigens ein Herr mit einem ziemlich lang gezogenen Kopf.
Differenz und Wiederholung erweisen sich also als künstlerische Prinzipien des grafischen Erzählers Martin tom Dieck, der all diese Geschichten in Bilder gesetzt hat. Er variiert stets ähnliche Motive: Wasser, Schifffahrt, einsame Männer in labyrinthischen Lagen. Wobei diese Labyrinthe offensichtlich für Zonen von Träumen und Albträumen stehen, vielleicht für das Unbewusste des Menschen überhaupt. Auch Wasser hat ja seine psychoanalytische Bedeutung. Es repräsentiert unter anderem die Seele selbst in ihrer Bewegung und Abgründigkeit. In seinem kleinen Comic-Essay "Die schweigende Laute" reflektiert tom Dieck über das Funktionieren von Träumen, zeigt, wie ein laufender Fernseher, vor dem ein Mann einschläft, einen Traum von einem orientalischen Lautenspieler stimuliert, bis das Gerät abgeschaltet wird.
So entfalten sich allmählich die Vernetzungen und Verwebungen der einzelnen Geschichten, die Martin tom Dieck erzählt. 1993 betrat er mit dem Band "Der unschuldige Passagier" eindrucksvoll die Szene und wurde dafür sofort mit dem Max-und-Moritz-Preis des Internationalen Comic-Salons Erlangen ausgezeichnet. Dieses Werk ist das Produkt einer Ausschreibung der Stadt Alsfeld für das Amt des Stadtschreibers, der im Jahr 1992 ausdrücklich ein Comic-Künstler sein sollte. Martin tom Dieck, 1963 in Oldenburg geboren, bewarb sich mit einigen Seiten seiner Diplomarbeit, mit der er gerade das Studium an der Hamburger Fachhochschule für Gestaltung abgeschlossen hatte; sie enthielt den Plot für den "Passagier" schon im Kern. Ein Jahr hatte er als Stipendiat von Alsfeld dann Zeit, diesen Plot zu einem surrealen Bilder-Roman zu entwickeln.
Dabei kommt tom Dieck fast ohne Worte aus (in "hundert Ansichten der Speicherstadt" verzichtet er ganz darauf). Er arbeitet vom Bild her, von holzschnittartigen Schwarz-Weiß-Effekten. Der Strich kann Körper entweder zu wuchtigen Volumina verdichten oder sie beinahe impressionistisch auflösen. Die menschliche Figur ist dabei selbst so ein Volumen, mehr grafisches Element als individualisierter Handlungsträger. Erst in den beiden Deleuze-Alben "Salut, Deleuze!" und "Die Abenteuer des unglaublichen Orpheus" löst sie sich aus dem formalen Zusammenhang und rückt ins Zentrum der Gestaltung. Für diese Bände hat der Journalist Jens Balzer die Szenarien geschrieben. Daher - und in konsequenter Hommage an den verbal argumentierenden Philosophen - wird nunmehr der Text wichtig. In den Geschichten, die tom Dieck selber entwirft, kann er weitgehend darauf verzichten, weil die Grafik selbst narrativ, illustrativ und zugleich symbolisch ist. Für sein ganzes bisheriges Werk wurde tom Dieck beim letzten Salon mit dem Max-und-Moritz-Preis für den besten deutschen Künstler ausgezeichnet.
Ganz unprätentiös sagt Martin tom Dieck, dass es ihm Spaß mache, am Schreibtisch zu sitzen und abgedrehte Welten zu erfinden. Und er sagt, dass ihn ganz besonders der Raum zwischen den Panels fasziniere. Da in diesem Raum viel passiert, wenn die Bilder quasi ausgeblendet werden, sind tom Diecks Erzählungen nicht in schlichter narrativer Kontinuität gehalten, sondern wirken wie Momentaufnahmen eines größeren Geschehens hinter den Bildern. Eines Geschehens, von dem das Bewusstsein nur vage Ahnungen verspürt, während der Traum seine Totalität kennt. Ihr kann sich nur ein Künstler nähern - während die Arbeit des Totenfährmanns unentwegt weitergeht. (HH)

© Stadt Erlangen und Verfasser

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