Lost Girl

Kategorie 3b
Beste deutschsprachige Comic-Publikation, Import
Raúl/Felipe H. Cava, "Berlin 1931", Avant-Verlag

Hinter dem Titel "Berlin 1931" verbergen sich drei lose miteinander verbundene Geschichten, die zur selben Zeit am selben Ort spielen. 1931 herrschen in Deutschland Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit. Eine Gruppe junger Kommunisten, die sich auf den Bürgerkrieg vorbereitet, erwartet einen - scheinbar - verbündeten Waffenhändler aus Hamburg. Doch das gegenseitige Misstrauen ist groß, und so entwickelt sich hinter dem politischen Engagement ein Kaleidoskop aus persönlichen Intrigen und sehr menschlichen Gefühlen. Die Hauptgeschichte "Die Reise nach Swinemünde" wird vor allem durch die Herausforderung interessant, die der Autor Felipe H. Cava dem Leser zumutet. Er präsentiert einen zeitlich und thematisch sehr eng gefassten Abschnitt aus dem Leben der Protagonisten, sodass alles im Dunkeln bleibt, was man sich nicht selbst erschließen kann. Mit dieser geheimnisvollen Atmosphäre harmonieren Raúls Zeichnungen ganz hervorragend. Düstere, oft schattenhafte Umrisse, verschwommene Gesichter und das Ineinanderfließen von Tag und Nacht lassen der Fantasie des Lesers viel Spielraum. Flankiert wird "Die Reise nach Swinemünde" von zwei kürzeren Erzählungen, die wie flüchtige Momentaufnahmen die Atmosphäre jener Zeit einfangen. Karikaturistisch verfremdet die eine und collageartig opulent die andere, zeugen sie von der außerordentlichen Vielfalt des Zeichner-Autoren-Teams. (pela)

Alan Moore/Eddie Campbell, "From Hell", Speed

Alan Moore ist ein Comic-Autor, der eigentlich nicht unbedingt einen Zeichner benötigt. Mit anderen Worten "From Hell" hätte auch als Hörspiel oder Roman funktioniert, ohne dass man Wesentliches daran hätte ändern müssen. Zum Glück für die internationale Comic-Szene versteht Alan Moore sich selber aber nicht als Roman- sondern eben als Comic-Autor, so dass seine literarischen Perlen ein nach wie vor oft zu unrecht als trivial gescholtenes Medium immer wieder zu veredeln wissen. Und natürlich: auch "seine" Zeichner, die Alan Moore stets mit viel Geschick für das aktuelle Projekt wählt, tragen ein Gehöriges zu diesen Meisterwerken der grafischen Literatur bei. In "From Hell" machen erst Eddie Campbells holzschnittartige Zeichnungen das viktorianische Dekor dieser dunklen Saga, Freimaurer, Royalisten und Straßenhuren (besser: Menschen) im London des Jahres 1888 so richtig spür- und erlebbar. Ach ja, natürlich geht es auch um "Jack the Ripper", dessen Morde und mehr oder weniger dessen Entlarvung. Aber das vergisst man als faszinierter Leser gerne, während Moore und Campbell einem das Mystische an London so hautnah näher bringen wie vielleicht gerade Altmeister Hugo Pratt in "Corto Maltese" weiland das Mystische an (unter anderem) Venedig. Auch die 56-seitigen Anmerkungen in diesem "600-seitigen Monster" (The Guardian) sind Zeile für Zeile lesenswert und beweisen nicht zuletzt, dass man auch perfekte eigenständige Kunstwerke schaffen kann, wenn man fast ausschließlich wörtlich von wahren und belegten historischen Fakten (besser: vom wirklichen Leben) abschreibt. (hah)

Art Spiegelman/Françoise Mouly, "Little Lit", Carlsen Comics

Sprach man in den letzten Jahren Art Spiegelman auf sein Magazin "Raw" an, huschte ein versonnenes Lächeln über sein Gesicht. "'Raw' ist nicht tot", antwortete er dann, "es liegt nur im Tiefkühlfach." Und meistens fügte der Vater von "Maus" hinzu, dass ja alle Künstler, die seinerzeit in "Raw" veröffentlichten, inzwischen von seiner Frau Françoise Mouly im "New Yorker" untergebracht wurden: "Also ist der ‚New Yorker' das neue ‚Raw', die wissen es nur nicht." Jetzt hat Spiegelman sein Kultmagazin anscheinend aufgetaut, denn mit "Little Lit - Märchen und Sagen" ist ein Band erschienen, der fast all die alten Mitstreiter des "Raw"-Magazins zwischen zwei Hardcovern versammelt. Und wie schon bei der unvergessenen Heftreihe galt auch hier nur ein Kriterium: Die besten Comiczeichner und -erzähler der Welt sollen präsentiert werden. Und so liest sich die Liste der Mitwirkenden dann auch wie ein internationales "Who-is-Who" der aktuellen Comicszene: Daniel Clowes, Joost Swarte, David Mazzucchelli, Lorenzo Mattotti, Charles Burns und viele andere mehr haben sich traditioneller Märchenstoffe angenommen und spinnen daraus ihr eigenes Garn. Dazwischen ist dann auch mal Platz für einen Klassiker wie Walt "Pogo" Kelly, der sich wunderbar in die Riege der modernen Künstler einfügt. Das ist, wie bei Anthologien üblich, nicht immer ganz gelungen, aber die bibliophile Aufmachung des großformatigen Bandes - die auch ein von Chris Ware gestaltetes Würfelspiel beinhaltet - rettet selbst die wenigen nur mittelprächtigen Geschichten. In den USA liegt bereits ein zweiter Band vor, diesmal mit klassischen Gruselgeschichten. (LuG)

Nabiel Kanan, "Lost Girl", Lost Comix

Die Pubertät ist eine Zeit der Melancholie, der Fantasie, der Sehnsüchte, der Träume. In der Erinnerung wird sie so durchsichtig wie die Zeichnungen in Nabiel Kanans grafischer Pubertätsnovelle "Lost Girl". "Lost Girl" ist eine Feriengeschichte, die Geschichte einer Begegnung zweier junger Mädchen. Das eine macht mit seinen bürgerlichen Eltern Urlaub auf einem Caravan-Platz. Das andere taucht auf, nimmt sich Freiheiten, hat Geheimnisse, lügt, verschwindet, ist faszinierend für das Bürgerkind. Der 31-jährige Engländer Nabiel Kanan erzählt die Geschichte in Schwarzweiß, mit holzschnitthaft kargen Strichen, ohne viele Worte. Hier kommt es ganz auf Atmosphäre an, auf diese erwartungsvolle Stille in den Seelen, die grafisch wundervoll erzeugt wird. "Lost Girl" hat die Qualität der Ruhe, der Kontemplation, eines verträumten Blicks aus der Rückenlage zum Himmel oder eines berauschenden Ritts zu zweit auf dem Rücken eines Pferdes (zwei subjektive Eindrücke, die bei Kanan Bild werden). Insofern ist "Lost Girl" eine wohltuende Alternative zum dramaturgischen und grafischen Überdruck vieler Konsum-Comics. Dass die deutsche Ausgabe im On-Demand-Verfahren entstanden ist und neue Vertriebswege für anspruchsvolle Comic-Literatur eröffnet, ist interessant, doch für das ästhetische Urteil spielt das verlegerische Unterfangen keine Rolle. (HH)

 
Frank Giroud, "Zehn Gebote", Comicplus+

Es gibt Glücksfälle im Verlagsgewerbe. Einer davon ist die französische Serie "Zehn Gebote", deren erste drei Titel mittlerweile auch auf Deutsch erschienen sind - und das jeweils kurz nach den Originalausgaben. Als Frank Giroud seine Serie vor zwei Jahren begann, wird er nicht geahnt haben, welche Aktualität sein Szenario über die zehn verlorenen Gebote des Propheten Mohammed durch die Anschläge vom 11. September 2001 erhalten würde. Der zweite Band etwa, "Eine Frage des Gewissens", gezeichnet von Giulio De Vita, widmet sich einem fanatischen Attentäter, der einen liberalen muslimischen Schriftsteller verfolgt: "Höre in deinem Herzen die Stimme Gottes" lautet das Gebot, das dieser Geschichte ihren Kern gibt, denn sämtliche Alben widmen sich jeweils einem der zehn fiktiven Gebote. Alle Folgen sind jedoch in sich abgeschlossen, und jedes einzelne Album wird - ein revolutionäres Konzept - von einem jeweils anderen Zeichner umgesetzt werden. Die ersten beiden haben ihre Handlungszeit in der Gegenwart, der dritte mit dem Titel "Die Ikone in Tränen" führt erstmals in die Vergangenheit, ins noch von Krieg und Partisanenkampf zerrüttete Griechenland der 50er Jahre. Die einzige inhaltliche Klammer der Reihe besteht im Erzählhintergrund: Alle zehn Teile des Zyklus berichten von den Bemühungen wechselnder Protagonisten, einen Roman namens "Nahik" zu finden, in dem ein napoleonischer Offizier die von ihm aufgefundenen zehn Gebote Mohammeds aufgelistet hat. Für dieses Buch wird gemordet, betrogen, gestohlen und geliebt. Und alle zehn Alben werden die jeweils darin behandelten Gebote zum Thema einer narrativen Auseinandersetzung zwischen den Religionen und individuellen Lebensentwürfen der Suchenden machen. Ein ambitionierteres Projekt ist schwer vorstellbar. (apl)

Bryan Talbot, "Die Geschichte von einer bösen Ratte", Comicplus+

Helen ist ein Punk. Eine von der Sorte, die auf der Straße lebt und bettelt, in U-Bahnschächten Zuflucht sucht und als Haustier eine Ratte hält. Jetzt lebt sie in London in einem besetzten Haus und hat schwere Probleme, sich auf andere Menschen einzulassen. Sie flieht aus der großen Stadt und sucht Zuflucht auf dem Land, im nordenglischen Lake District. Erst hier konfrontiert sie sich selber mit dem Horror, der in ihrer eigenen Seele lebt: Jahrelang musste das Mädchen den sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater ertragen. Nur sehr langsam lernt sie, dass es Menschen gibt, denen sie vertrauen kann, gleichzeitig erlebt sie ihr Coming Out als Künstlerin. Helen arrangiert ein Treffen mit ihrem Folterer und diese Katharsis befreit sie endgültig von ihrer Vergangenheit.
Der britische Zeichner und Autor Bryan Talbot liefert mit diesem Buch ein kleines Meisterstück ab: Seine Geschichte einer bösen Ratte geht mit dem Thema Kindesmissbrauch auf eine sehr persönliche, fast schon intime Art um. Nicht dass er Mitleid oder gar Verständnis mit denen heuchelt, die dieses Verbrechen begehen, ihm geht es einzig und allein um die Opfer. Doch dieser Band funktioniert noch auf zwei weiteren Ebenen: Zunächst ist er eine Hommage an Talbots Heimat, eine der schönsten Landschaften Europas, gleichzeitig ist er eine Huldigung für Beatrix Potter, Autorin und Zeichnerin so vieler klassischer britischer Kinderbücher. Denn Potter, die sich nicht durch Zufall mit Talbots Heldin den Nachnamen teilt, war auch für andere Menschen schwer zugänglich, den Grund dafür erfuhr man niemals. Talbot, ein Zeichner aus der Ecke des britischen Magazins "2000 A.D." und daher ansonsten eher dem SF-/Fantasy-Genre zugeneigt, hat in der "Geschichte einer bösen Ratte" ein Buch geschaffen, das ganz im Heute verwurzelt ist. Doch seine Erzählweise, seine Verwendung von Farben, Licht und Lay-Outs im Sinne der Story, sein dicht gewobener Plot und die kluge Verwendung von Rückblenden, ist fast schon beispielhaft zu nennen. Ein ebenso schönes, wie wichtiges Buch. (LuG)

 

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